Es war dieses beiläufige, lockere Lächeln, das Markus innerlich rot werden ließ. Sie hatte gerade umgeblättert, Rilke. Sie las Rilke im Zug und lächelte dabei. Er saß nur eine Sitzreihe vor ihrem Vierer-Platz, er beobachtete sie durch den Spalt der Sitze. Wenn sie inzwischen bemerkt hatte, dass er sie beobachtete, dann ließ sie sich nichts anmerken. Bisher erhaschte keiner ihrer Blicke seine ungefähre Richtung. Markus atmete einmal tief durch und schritt durch den Zug in ihre Richtung. Beim Hinsetzen wollte mit: „Wie ist das Buch?“ eine interessierte, unverfängliche und doch intellektuell höchst taktvolle Frage an sich richten. Doch dann entschied er sich für das riskantere: „Rilke? Sie müssen eine Romantikerin sein.“ Sie blickte einmal kurz auf, ihr Blick verriet sie nicht. Falls sie Worte für ihn übrighaben sollte, dann vermochte er nicht zu wissen, ob es Todesstöße oder ein neckischer Kommentar wäre. Dies ließen auch ihre nächsten Worte nicht durchblicken: „Ach“ sagte sie nur. Dieses „Ach“ konnte alles bedeutet – sowohl „Ach, du meine Güte. So reizvolle Worte haben noch nie meine Worte gefunden.“ oder auch ein „Ach, schon wieder so ein Depp, der mich anspricht.“ Markus empfand die aktuelle Schweigepause als äußerst unangenehm. Da er sich nicht aufdrängen wollte, suchte er hastig selbst nach Lektüre in seinem Rucksack. Leider fand er sie nicht und es wurde nur ein lautes Rascheln vernehmbar. Er zückte schlussendlich nur ein Sudoku Heft aus seiner Tasche. Dieses Durchblätterte er und die Dame, zu der er sich hingezogen fühlte, senkte langsam ihr Buch. „Auch sie haben einen sehr erlesenen Geschmack! Manche würden es rätselhaft nennen, ich jedoch nenne es charmant.“ Er errötete, sie lachte auf. „Marissa ist mein Name.“ „Markus“. Sie beäugte ihn verschmitzt und fragte: „Darf ich behilflich sein? Vielleicht sogar mit einem Stift?“ Markus nickte freundlich und nahm einen Stift, den sie schnell aus ihrer Handtasche herauspickte. „Falls Unterstützungsbedarf besteht – moralisch oder intellektuell, sagen sie Bescheid. Ich feuere sie an!“ Eine wunderliche Frau – dachte Markus bei sich. Zuerst redet sie kein Wort und nun ist jedes Wort wie eine scharfe Klinge. Es kitzelt und sticht gleichzeitig. „Marissa, ich habe ein Problem an dieser Stelle des Sudokus. Siehst du, ich habe 1,2,3,4,5 rausgefunden und auch 7 und 9 – mir fehlt nur noch äh…“ Es war ihm peinlich, er war schamvoll von Elternhaus an. Denn jedes Mal, wenn er auch nur an das Wort „Sexualität“ dachte, wurde er auf die Finger geschlagen mit einem Stock. Marissa schien dies zu genießen, ihre schamgrenzen waren offenbar nicht existent. Sie sagte: „Hier“ und deutete mit einem Finger auf ein leeres Kästchen. „Sollte eine Sechs stehen.“ Sie hauchte die Zahl und leckte über ihre Lippen, dann musste sie auflachen. „Du bist doch sonderbar. Da setzt du dich mir gegenüber, sagst einen äußerst merkwürdigen Spruch auf und bist doch so verklemmt.“ Markus wusste gar nicht mehr, was er sagen sollte. Vor Scham wollte er nur noch aussteigen. Marissa merkte, dass sie zu weit gegangen war. „Verzeihung… ich hab dich nicht verletzen wollen.“ Es war das erste mal, dass sich beide ansahen und eine Zerbrechlichkeit in beiden Augen erkennbar war. Hier war die taffe Frau, die sich nicht von dahergelaufenen Männern runterbuttern lassen wollte. Und da war Markus – der sich schon lange erhofft hatte, ein besseres Verständnis von Frauen zu haben. Doch immer wieder scheiterte er durch seine Unsicherheit.