Simon war ein Mensch, der die Wahrheit eher als Besteckkasten, denn als objektivierbare Wirklichkeitskonstruktion verstand. Wenn jemand ihn fragte, wie es ging, dann nutzte er schon diese erste Gesprächsfrage, um einen Samen für eigene Wahrheiten zu pflanzen. „Oh, mir geht es furchtbar.“ – „Oh, nein. Was ist denn los?“ – „Meine Frau hat mich verlassen und jetzt kann ich mir nicht mal einen Döner hier an der Ecke kaufen. Nur, weil sie mein ganzes Geld genommen hat.“ Natürlich hatte Simon keine Frau, war niemals verheiratet gewesen und Döner hatte er sich nie leisten können. Dennoch fielen Menschen reihenweise auf seine Tricks herein. Mit empathischer Miene luden ihn Leute dann zum Döner ein, gaben eine Runde für ihn aus im Café oder Frauen schliefen mit ihm, um ihn aufzumuntern. Simon allerdings war das Lügen so gewöhnt, dass es seine eigene Realität wurde. Eines Abends lud er mich ins Kino ein, was ich entnervt annahm. Denn eine Einladung von Simon lief jedes einzelne Mal darauf hinaus, dass er „Nur dieses eine Mal aus Versehen“ sein Geld vergessen hatte. Es war Ende des Monats und ich hatte noch eine ordentliche Summe auf dem Konto, also sprach nichts dagegen, die Einladung anzunehmen. Im Kino angekommen, stand er schon weit vorne an der Kasse und winkte mich zu ihm. Er blickte zu Boden, als würde er dort etwas suchen. „Es tut mir leid, ich habe…“ – „Schon gut, ich zahle.“. Simon sah mich erleichtert an: „Danke, dafür werde ich mich irgendwann revanchie…“. – „Lass gut sein, Simon.“ unterbrach ich ihn. Wenn ich eines mehr hasste als seine Lügen, so war es seine höfliche Art, wie er nicht-einzuhaltende Revanchen aussprach. Wir gingen zur Kasse, zahlten einmal für „American Psycho“ und betraten den bereits gefüllten Kinosaal. Wir setzten uns in die Mitte, Reihe 6 und warteten auf den Vorstellungsbeginn. „Du wirst es kaum glauben, Nick!“ – „Was denn?“ – „Ich hab es diesmal geschafft – wirklich. Eine unbefristete Stelle und sogar bei Microsoft.“ – „Wow, Gratulation! Bist du jetzt im IT Bereich?“ – „Sozusagen, also ich arbeite als Facility Manager.“ Nun war ich ganz verdutzt. Simon war zwar nie so lernwillig gewesen, dass ich ihn im IT Bereich als Software-Entwickler vermutet hätte – aber Facility Manager? „Ich dachte ein Job, in dem du nicht Kaffee an deinen Arbeitsplatz bekommst, sei unter deiner Würde.“ – „Na klar, bekomme ich Kaffee an meinen Arbeitsplatz! Ich hab doch Praktikanten.“ Ja, stimmt. Bei großen Unternehmen mit großem Namen konnte man eigentlich immer davon ausgehen, dass sie mindestens 40 % Beschäftigte haben, die aufgrund des Namens da sind, aber in einem kleineren Betrieb oder bei einem staatlichen Betrieb radikal eingespart worden wären. „Jedenfalls, wenn ich mit den Praktis dann Pause mache, dann freuen die sich immer über meine Anekdoten.“ – „Deine angeblichen Anekdoten? Die Lügengeschichten?“ – „Ansichtssache; Auf jeden Fall bin ich richtig stolz, dass sie jetzt Limonade aus ihren Zitronen machen.“ – „Was meinst du?“ – „Na, von dem Praktilohn kannst du ja nicht leben.“ – „Das habe ich angenommen.“ – „Trotzdem schaffen es alle, satt zu werden.“ – „Soso?“ – „Ja, sie erzählen einfach, dass ihre Frau sie verlassen hätte und bekommen einen Döner. So eine irre Geschichte.“ Ja, manche Menschen ändern sich eben nie. Sie ändern eher andere Menschen.

Von Nicolai