Manche selbst erlebte Geschichten lesen sich wie ein Traum, den man selbst kaum glauben kann. Wir liefen durch das Grunewalder Villenviertel, jeweils mit eigenen Snackboxen in der Hand. Michael aß wie immer Gurkensalat, den er morgens zubereitet hatte. Ich aß Karotten. „Was meinst du, wie viel könnte die dort kosten?“ fragte er mit einem durchaus interessierten Blick. Dafür zog er eine Augenbraue hoch, wofür ich ihn hasste. Denn ich konnte dies selbst nach jahrelanger Übung immer noch nicht. Die Villa auf die Michael zeigte, war beachtlich. Sie sah aus, wie ein futuristisches Flugobjekt, welches wohl kaum zu einem Probeflug zugelassen werden konnte. Überall diese Verglasung, als würden reiche Menschen gerne etwas von der Welt sehen. Dies stand im Widerspruch zu allem, was ich über die meisten reichen Menschen wusste. Entweder befanden sie sich tief im Innersten ihrer eigenen Privatsphäre… oder an Bord ihres Jets oder ihrer Jacht. Die dann aber jeweils auch eine Art eigene Privatsphäre waren. „Hm ich schätze 8 Millionen.“ Michael nickte einigermaßen überzeugt. „So langsam scheinst du den Dreh wirklich rauszuhaben.“ Meinte er zu mir, wie ein Sportlehrer zu seinem Schüler, der das erste Mal einen Handstand mir Abrollen geschafft hat. „Bin ich nah dran?“ fragte ich, doch etwas zweifelnd, da ich trotz vieler Villen Besuchen immer noch unsicher war, an welchen Kriterien ich das beurteilen konnte. „Ich denke schon, die Lage, die Architektur… vielleicht 8,5. Aber sehr nah an meiner Schätzung.“ Michael war einfach ein Spitzenkenner. Während andere sich wohl niemals trauen würden eine Schätzung für einen Diamantenring oder eine Jacht abzugeben, war er doch ein Experte. Kein Wunder, wenn er sein Leben lang mit diesen Sachen umgeben war. „Glaubst du, wir könnten auch mal gemeinsam in einer Villa übernachten… ich meine nur, weil ich das einfach mal ausprobieren wollte.“ Michael seufzte. Er wusste, dass es für ihn nur ein Schnipsen mit dem Finger war. Er hätte vermutlich alle Villen der Gegend aufkaufen können. Doch er hasste seinen Reichtum. „Nein, Nick. Ich hab keine Lust darauf… wenn du willst, dann schenke ich dir mal eine Übernachtung zum Geburtstag. Aber ich will damit nichts zu tun haben.“ – Die meisten werden sich jetzt an dieser Stelle am Kopf kratzen. Ein Reicher, der keine Lust hat in einer Villa zu übernachten? Klar, ich habe mich am Anfang auch gewundert, weshalb Michael mir so verschüchtert entgegenkam mit seinem Reichtum. Doch heute weiß ich ihn zu schätzen. Heute weiß ich, dass es auch reiche Leute gibt, die unter ihrem Reichtum leiden.
Michael war mir das erste Mal auf einer Studentenfeier aufgefallen. Es war Semesterauftaktparty in der Galilea der Freien Universität. Mir war das ganze zu viel Trubel, weshalb ich mich entschied nur die erste Stunde aufzukreuzen. Das hatte sich in einem vielfachen Sinne als goldener Riecher herausgestellt. Nicht nur, dass ich Michael als meinen besten Freund gewinnen konnte, sondern auch einen äußerst reichen. Ich saß also an einem der aufgestellten Tische an diesem Abend. Um mich herum noch keine Tanzlaune, aber doch einigermaßen laute Musik. Viele aufgebrezelte Menschen, aber auch viele, die in Sportklamotten oder Alltagsoutfit ankamen. Nachdem ich ein Gespräch mit einer Kunststudentin hatte, die sich aufs Klo verabschiedete, kam Michael einfach auf mich zu. „Hey, du scheinst mir sympathisch zu sein.“ Ich lachte auf, da ich es nicht gewohnt war, dass andere Menschen auf mich zukamen. „Danke, das kann ich nur zurückgeben.“. Nach anfänglichem Smalltalk, welche Unis und Studiengänge wir hatten, kamen wir auf das Thema Marxismus. Es war… plötzlich da. Wahrscheinlich ging es kurz vorher um die Ringvorlesung in der Politikwissenschaft. Dort hatte ich etwas aufgeschnappt über Neomarxismus und den Wert der Arbeit heute und Michael war Feuer und Flamme. Ob ich denn schon von dem Projekt taxtherich gehört hätte, ein Zusammenschluss reicher Menschen, die sich zusammen für eine gerechtere Besteuerung einsetzen. Er sei großer Fan, da er finde, man könne es sich nicht bieten lassen, dass reiche Menschen so wenig Steuern zahlen. Hier wäre ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, an dem er sich hätte outen können als reicher Menschen. Doch das alles sollte ich erst viel später erfahren. Michael hatte einen Safe Space um sich herum aufgebaut. Er war von München nach Berlin gezogen und hatte in seinem Studium von seinen Eltern einen Unterhalt von 2000 € bekommen. Ein ordentlicher Batzen, sodass er eine Miete von 1000 € im Monat bezahlen konnte. Doch davon abgesehen wäre niemandem aufgefallen, dass etwas bei ihm anders wäre als bei ca. 99 % der anderen Studierenden. Er war einer von ihnen – oder besser: Einer von uns. Wir nahmen einfach an, dass er – wie alle anderen – BaföG bezog und wenn er dann ein, zweimal mehr in der Woche ausgehen und essen gehen konnte, dann hielten wir das einfach für einen bisschen verschwenderischen Lebensstil, den viele am Anfang des Studiums haben, bis sie merken, dass sie am Ende des Monats nicht genug Geld haben. Er hatte keine Putzfrau, er hatte keine großen extravaganten Hobbys. Er war einfach der Michael.