Thomas Gottschalk hat es tatsächlich gesagt! „[Einer der Gründe, warum ich die Show nicht mehr moderiere] ist natürlich der, dass ich – und das muss ich wirklich sagen – immer im Fernsehen das gesagt habe, was ich zuhause auch gesagt habe. Inzwischen rede ich zuhause anders wie im Fernsehen und das ist auch keine dolle Entwicklung […]“1.
Thomas Gottschalk reiht sich hier in einen Diskurs ein, der seit inzwischen fast zwei Jahrzehnten unter dem Begriff „Cancel Culture“ verhandelt wird. Dabei handelt es sich nur in seltenen Fällen um Entwicklungen, die tatsächlich problematisch sind im Medienbetrieb.2 Nein, es geht vor allem um Fälle, in denen (bisher) privilegierte Personen feststellen, dass ihre Sprachakte auch Konsequenzen haben können. Beispielsweise ein Dieter Nuhr, der mit seltsamen, zweideutigen Sätzen ein Statement für den DFG abgegeben hat. Statt einzusehen, dass das eigene Statement eventuell einen problematischen Unterton hat, wird hier affektiv ein „ich darf nichts mehr sagen“ heraufbeschwören.3
Der Ursprung des Begriffs „Cancel Culture“, der in Episode 152 des Podcasts Piratensender Powerplay erläutert wird, ist für diese affektive Reaktionen bezeichnend. Samira El-Ouassil erklärt in dem Podcast, dass der Begriff anfangs in dem relativ unbekannten Film „New Jack City“ zu hören war und anschließend seinen Weg über das Trash-TV-Format „Love and HipHop“ und Twitter in den medialen Diskurs beschritten hat. Dabei war die Übernahme des Begriffs im Trash-TV durch einen affektiven Impuls entstanden. 4
Der affektive Impuls von privilegierten Personen ist eine Reaktion, die sich in die Affektivität von Reality-Formaten einreiht. Denn es geht hierbei weniger um ein argumentatives Sich-Auseinandersetzen mit den Positionen der vermeintlich „höheren Macht“ von marginalisierten Gruppen. Die marginalisierten oder de-privilegierten Gruppen haben in der Zeit von Ent-Grenzung des Politischen Raumes bis hin in die Smartphones jeder einzelnen Person eine lautere Stimme, bzw. überhaupt eine, als in den Diskursräumen vor der Zeit des Internets. Heutzutage kann eine Aktivistin ein Video über intersektionalen Feminismus über TikTok teilen und erreicht damit eventuell sogar ein Millionen-Publikum, während diese Themen zuvor vor allem im akademischen Diskurs stattfanden. Und dieser ist meist nicht oder kaum zugänglich für die breite Öffentlichkeit.
Die Räume, die sich privilegierte Personen, wie Gottschalk genommen haben, waren also nie da. Sie wurden behauptet, aber waren nur öffentlich geduldet, da es kaum Aufmerksamkeit für die Themen der marginalisierten Gruppen gab.
Akteure, die zuvor Privilegien erfahren haben, könnten nun einen Schritt auf diese Bewegung, auf die neuen Akteure zugehen. Es könnte eine Synthese geben aus dem vermeintlich unbegrenztem öffentlichen Raum, in dem „wie Zuhause gesprochen werden darf“ und der Emanzipationsbewegung der marginalisierten Gruppen. Hieraus kann eine Annäherung an einen herrschaftsfreier Diskurs entstehen, wie es von Habermas formuliert wurde, aber in der Praxis wohl nicht umsetzbar wäre.
Stattdessen folgt ein Rückzug ins Private. Die Bühne wird verlassen, doch mit einem Verweis auf die Privatsphäre, in der noch alles „Normal“ sei. Es entsteht kein Dialog, keine Aus-einandersetzung, keine Beziehungsebene.
Wir erleben hier eine Entwicklung, die gegenläufig zur feministischen Bewegung der 1960/1970er Jahre ist, in denen der Leitspruch „Das Private ist politisch“ ist. Statt einer emanzipatorischen Bewegung die Hand auszustrecken oder sich zumindest argumentativ mit ihr zu beschäftigen, folgt nichts, nur eine Abkehr.
Die Leitlinie dieser Bewegung ist „Dann sag ich halt gar nichts mehr.“ Da eine vermeintlich problemfreie Positionierung nicht mehr möglich ist, wie sie früher möglich gewesen sein soll, erfolgt der Rückzug ins Private. Diese Entwicklung wird als problematisch dargestellt, da man nicht mehr einfach alles sagen könne „wie Zuhause“.
Hierbei wird übersehen, welche Probleme es mit sich bringt, wenn sich das Politische ins Private zurückzieht. Wenn Politische Äußerungen nicht mehr die öffentliche Form wahren, sondern affektiv werden. All diese Problematiken haben wir schon während der Präsidentschaftszeit Donald Trumps gesehen, der vielleicht sogar als Präsident zurückkehrt.
Auf eine Affektisierung des Politischen auf medialer Akteursebene folgt unweigerlich eine Affektisierung von den Beobachtern zweiter Ordnung, wie Niklas Luhmann es beschreiben würde. Wenn wir politische Handelnde sehen, die emotionalisiert, voller Wut, Angst oder Hass, auf uns einreden, dann werden wir auch emotional.
Als Gegen-Standpunkt gibt es allerdings auch Themen, bei denen eine emotionale Debatte durchaus angebracht wäre. So schreibt Stefan Schulz in die Altenrepublik in Bezug auf die ehemalige Familienministerin Anne Spiegel, die ihr Amt aufgrund von einer ungünstigen Kommunikation im Bezug auf ihren Urlaub zurücktreten musste: „Bei Anne Spiegels Pressekonferenz konnte man sehen, wie ein Lebensentwurf zerbrach. Er zerschellte an verkommenen, überholungsbedürftigen Erwartungen. Eine Familienministerin scheiterte an ihrer eigenen Familie.“5 Affektisierung hat meiner Meinung nach eine Berechtigung, wenn es um das Ur-Thema des Politischen, zum Beispiel einer universalistischen in Form der feministischen Auseinandersetzung mit den öffentlichen Belangen zu tun hat: Wieso können Frauen6 immer noch nicht als gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft am politischen Diskurs teilnehmen?
Anmerkungen
1: ab 2:59:35 ZDF Mediathek 202
2: Hierfür sei verwiesen auf großartige Podcasts, wie den Aufwachen! Podcast, den Alias Fernsehpodcast oder Piratensender Powerplay.
4: ab 35:22 https://piratensenderpowerplay.podigee.io/177-new-episode
5: Stefan Schulz, Die Altenrepublik 2022, S. 152
6: Die Frage war auf Anne Spiegel bezogen, kann aber selbstverständlich auf jede marginalisierte Gruppe angewandt werden.